Richard Hamilton: "Retard en Fer – Delay in Iron",
Ansichtskarte der Wiener Staatsoper von 2001/2002.
Dem Bild auf dem Eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper
liegt eine Radierung Hamiltons zugrunde, die
wiederum auf eine Fotografie des Teatro della Scala, Mailand,
aus den 50er Jahren zurückgeht.

Der Titel
Retard en Fer  paraphrasiert Duchamps Notizen zu
La Mariée mise à nu par ses célibataires, même:


Sorte de sous-titre
Retard en verre

Employer "retard" au lieu de tableau ou
peinture; tableau sur verre devient
retard sur verre – mais retard en
verre ne veut pas dire tableau sur verre –
C’est simplement un moyen
d’arriver à ne plus considérer
que la chose en question est un
tableau – en faire un retard dans
le tout général possible,
pas tant dans les différents sens
dans lesquels retard peut être pris, mais
plutôt dans leur réunion indécise.
"retard" – un retard en verre
comme on dirait un poème en prose
ou un crachoir en argent.
 

Richards Hamiltons Ansichtskarte aus der Serie "Eiserner Vorhang" der Wiener Staatsoper nimmt unter den übrigen Kartengestaltungen mit Bildern andere Künstler insofern eine Sonderstellung ein, als Hamilton in den vorgegebenen Rahmen des leeren Zuschauerraums einen weiteren Zuschauerraum -- der Mailänder Scala -- an der Stelle implementiert, wo sich eigentlich die Bühne befindet. Die Situation des Betrachters der Ansichtskarte ist von der des Publikums, das im Saal Platz genommen hat und auf den Vorhang blickt, verschieden. Der Blick in den Saal der Mailänder Scala aus der Perspektive des Wiener Publikums versetzt dieses imahinär auf die Bühne der Scala, oder als zweite Lesart, es wähnt sich einem Spiegel gegenüber, in welchem es das sieht, was hinter ihm liegt und ohne das Spiegelbild nicht sehen würde. Es sieht sich in Reflexion. Da man jedoch nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann, muss die Wahrnehmung einer Seite verschwinden, nämlich die, die ohnehin kaum wahrnehmbar ist, nämlich die eigene. Damit gleicht diese Situation demjenigen, der sich im Spiegel beobachtet, weil auch hier die bewusste Wahrnehmung sich entscheiden muss. Der Betrachter der Ansichtskarte nimmt nun die Stelle des Publikums ein, dessen Position quasi ausgelöscht ist, solange es Hamiltons Bild anschaut. Die Leere im Vordergrund des Kartenbildes bildet die Umgebung für Hamiltons Bild, der Umgebung vergleichbar, die im Selbstbildnis eines Künstlers erscheint, der einmal malen kann, was ihm gegenüberliegt, oder das was er mit sich selbst im Spiegel sieht. In jedem der beiden Fälle ist der Künstler ortlos, orientierungslos. Als Spiegelbild gehört er einem anderen, nämlich rechts und links vertauschten Raum an, im anderen Fall ist keine Relation zu dem Raum vorhanden, in dem er sich befindet.


Es kommt die klassische Paradoxie ins Spiel, dass man sich nicht selbst als Sehender sehen, das Sehen selbst nicht sehen kann, so wenig wie das Hören, wenn man hört. Wenn ich etwas sehe kann ich nicht zugleich sehen, dass ich sehe, weil ich dann auch sehen würde, dass ich sehe usf. im unendlichen Regress. Dieser rein formale Prozess der Selbstbeobachtung, der unendlich fortgesetzt werden könnte, entspricht jedoch nicht der Wahrnehmung, in der nach Jason W. Brown ein Selbst immer mit einem Objekt verbunden ist, weshalb das Selbst nur in Zusammenhang mit einer Objektwahrnehmung auftritt. In einer Notiz der Box von 1914 bemerkt Marcel Duchamp jedoch: "Man kann schauen sehen. Kann man horchen hören, schmecken riechen, usw....? (Die Schriften S. 210) In der Schachtel von 1914 (Text 8): "Man kann sehen (schauen) sehen, man kann nicht hören hören." Meint er damit, sich selbst beim Beobachten beobachten zu können? Wahrnehmen (Sehen) ist ein einheitlich auf sich bezogenes Kontinuum, d.h. ein im Selbst abgebildeter Prozess, der nur als ganzer existiert, gesehen oder gelesen werden kann wie eine Schwingung. In der Kybernetik ist der Beobachter 2. Ordnung entweder einer, der den Beobachter beobachtet, oder ein Beobachter, der über seine Beobachtung reflektiert, sie beobachtet. Die Paradoxie der Selbstbezüglichkeit eines Ganzen, das sich nicht selbst enthält, wenn es sich enthält, ist räumlich oder zeitlich auflösbar.

Hamiltons delay en fer ist die Darstellung eines Zuschauerraums, der sich enthält, indem er sich nicht enthält, die Paradoxie aufgelöst in zwei Räumen.
Der Gedanke an eine Spiegelung wird nicht nur dem Publikum mit dem Bild nahegelegt, sondern auch dem Betrachter der Ansichtskarte, der den Augenpunkt der Perspektive einnimmt. Die Reflexion des Spiegels ist vergleichbar mit einer chiralen Figur, deren achsensymmetrisch gespiegelte Form nur über eine Bewegung in einer höherstufigen Dimension zur Deckung gebracht werden kann. Wie die Figur einen Umschlagspunkt durchlaufen muss, an dem sie weder ihre alte noch die neue Form oder beide Formen zugleich hat, so kann dieser Punkt mit der Reflexionsebene des Spiegels verglichen werden, die auf eine höhere Dimension schließen lässt. Für eine solche Bewegung fanden 1858 Möbius und Listing unabhängig voneinander eine mathematische Darstellung, mit der die beiden Zustände ineinander überführt werden können. Für eine ebene Fläche ist das Möbiusband ein Beispiel, das zeigt, wie durch Verschieben auf dem Band aus einer rechtshändigen Figur eine linkshändige wird. Der Raum, in dem die Verkehrung stattfindet, ist nicht der Raum Euklids und mithin nicht vorstellbar. Dieser Raum zeigt sich jedoch an der Händigkeit von Objekten, und was links oder rechts bedeutet, kann man nur zeigen, aber nicht mit Worten beschreiben. Damit gewann für Kant diese Form der Anschauung eine besondere Bedeutung gegenüber dem begrifflichen Verstand, und es besteht die Möglichkeit, daraus die Bedeutung ästhetischer Phänomene abzuleiten, die in ihrem jeweiligen Medium auf  Zeigen spezialisiert sind, mit dem das Phänomen sich selbst übertrifft. Dieses Übertreffen scheint eine epochale Figur zu sein, weil sie all die Tendenzen der Epoche begleitet, die Wahrnehmung der Welt in eine Beschreibung dieser Wahrnehmung zu transformieren und auf Modelle oder Diagramme zu reduzieren. 

In der Erfahrung der Spiegelung scheint der Beobachter Gefahr zu laufen, eine Geometrie wieder zu beleben, die nach Piaget in einer frühen Entwicklungsphase der Raumvorstellung Bedeutung hatte: die Topologie, die einmal aktiviert, nun die Orientierung bedrohen könnte. Daraus lässt sich aber auch schließen, dass das Spiel mit dem Spiegelbild und das Interesse am Selbstbildnis dem Reiz einer Entdifferenzierung des Raumes und der Aufhebung der Orientierung erlieg
t. Richard Hamilton verbindet mit Dieter Roth die Vorstellung eines Selbstbildes als Konstruktion des Zwischenraums zwischen mehreren Körpern. Die Subjektivität ist "von ihrer Umwelt vollkommen durchdrungen (und) so vollkommen nach außen gekehrt, dass zwischen Innen- und Außenraum eine reversible Beziehung besteht". (Wolfram Pichler: Bildoberflächen, topologisch gewendet; in: T. Eder, J. Vogel, Hg.: Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jekinek, 2010, S. 32) 





RETARD

Das Bild gleicht einer Unterbrechung des Erscheinungsflusses, seine Stasis ist von der Bewegung her gedacht als eine besondere Form von Bewegung, sozusagen die gegen Null tendierende Bewegung, die vom Interesse hervorgerufen wird und Wahrnehmung ermöglicht. (H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, 1964, S. 26) Der Bewegungsfluss ist durch Unterbrechungen oder Hemmungen in Bilder zerlegbar wie in Filmstills. Richard Hamiltons Ghosts of Ufa liegt ein im Laufe der Zeit korrumpiertes Filmschnipsel zugrunde, der Zerfall der Silberschicht verläuft partikular und chaotisch wie jeder entropische Prozess. Im Abbau sind als Umkehrung des Aufbaus Reste des Aufbauprozesses sichtbar, die noch eine Gestaltwirkung entfalten, sodass beide Richtungen in einem Bild vereint sind -- vorwärts und rückwärts, Aufbau und Abbau, die sich im Nun begegnen. Die Gestaltwirkung beruht auf dem Effekt sich zersetzender Formen, d.h die rückläufige Abbaubewegung wird durch die Ästhetisierung des Wahrgenommenen ersetzt.  Die Ästhetisierung lässt sich auf die Erweiterung der inneren Anschauung zurückführen, vielerlei Objektstadien annehmen zu können, deren Formen im Film selbst seriell auftreten. Die Bräunung des Silbers in den Filmschnipseln zeugt von der Dauer eines chemischen Prozesses; dem Verlust an ursprünglicher Struktur steht ein Gewinn an Freiheitsgraden gegenüber, die der zufallsbedingte Zerfall als gegenläufiger Prozess zum materiellen Aufbau mit sich bringt.

Henri Bergson beschreibt in "Materie und Gedächtnis" die bildliche Vorstellung als Hemmung eines Fließprozesses. "Gegeben ist die Totalität der Bilder der materiellen Welt mit der Totalität ihrer inneren Elemente. Aber wenn wir Zentren tatsächlicher d.h. spontaner Aktivität annehmen, dann werden die Strahlen, die auf sie treffen und ihr Interesse zu erregen vermögen, nicht mehr durch sie hindurchgehen, sondern zurückgeworfen werden und so die Konturen des Gegenstandes, der sie aussendet, abzeichnen. Es geschieht dabei nichts Positives, dem Bilde wird nichts hinzugefügt, es tritt nichts Neues auf. Die Gegenstände geben nur etwas von ihrer reellen Wirkung auf und stellen dafür ihre virtuelle  Wirkung dar, und das heißt im Grunde den möglichen Einfluss des Lebewesens auf sie. Die Wahrnehmung ähnelt also ganz den Phänomenen der Reflexion, die in gewissen Fällen an Stelle der Brechung treten; sie ist eine Art Spiegelerscheinung." (Materie und Gedächtnis, 1964, S. 68) Anders als in Bildern ist nach Bergson Materie nicht zu erfahren, darin zeigt sich jedoch, dass wir die diskrete Form nicht hintergehen können, auch wenn ihr Kontinuität zugrunde liegt, die ständig gebrochen oder begrenzt wird, um Wahrnehmungen zu ermöglichen. Das Negativ des Films ist ein Beispiel für Hemmung und Durchlass, wobei das Projizierte als Umkehrung erscheint, die Abbildfläche die unterschiedlich starken Lichtströme bricht, also reflektiert. Der Bildraum ist also Reflexionsraum wie das Spiegelbild, die Räume getrennt durch die Abbildflächen. Die Reflexion verändert die beobachterabhängige Chiralität.

Es ist auffällig, wie eng das Psychische mit dem Geometrischen zusammenhängt, so dass Imre Hermann sogar sagen konnte, die Wahrnehmung des nicht-euklidischen Raums sei kein Problem der Physik oder der Mathematik, sondern der Psychologie. Geometrie stand im Mittelpunkt der pythagoreischen, dann der platonischen und der Leibnizschen Philosophie, und Kants vernunftkritische Wendung basiert auf eingehender Beschäftigung mit Wahnsystemen, Swedenborgs Psychose zum Beispiel. (
Constantin Rauer: Wahn und Wahrheit. Kants Auseinandersetzung mit dem Irrationalen, 2007) Kant parallelisiert den Projektionsbegriff der analytischen oder darstellenden Geometrie mit dem psychologischen Projektionsgedanken, im Objektbereich Phänomene zu erkennen, die aus dem Subjekt kommen, ohne dass diese Herkunft vom Subjekt wahrgenommen wird. Es handelt sich bei der Orientierungsschwäche also um eine Verwechslung von innen und außen, zumindest um eine Ununterscheidbarkeit der beiden Räume, die zur Folge hat, dass Einbildungen für Wahrnehmungen gehalten werden können. In der kleinen Schrift „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume“ setzt sich Kant von der traditionellen Anschauung des Raumes ab, er bestehe „nur in dem äußeren Verhältnisse der nebeneinander befindlichen Teile der Materie“ und die körperliche Gestalt beruhe „auf dem Verhältnis und der Lage seiner Teile gegeneinander“.

Entscheidend für die Orientierung des Subjektes im Raum sei die Spiegelbildlichkeit, in der die rechte Hand zugleich als linke in Erscheinung tritt. Die Figur eines Körpers kann der Figur eines anderen Körpers völlig ähnlich und die Größe der Ausdehnung ganz gleich sein, dennoch bleibt ein Unterschied übrig, „nämlich der, dass die Oberfläche, die den einen einschließt, den andern unmöglich einschließen könne“. Diese Art von Gegensätzlichkeit oder „Gegenhaltung“ macht also bei Kant den Raum als absoluten aus, der jedoch eine Form der Anschauung ist. Die Gegenden im Raum sind bezogen auf ein anschauendes Bewusstsein. (Anette Garbe: Die partiell konventional, empirisch bestimmte Realität physikalischer RaumZeiten, 2001) Eben dieses Vermögen, mit der „Gegenhaltung“ des Raumes umgehen zu können, auf der Kant beharrt, beruht auf einer Leistung, die das Eindringen topologischer Geometrien wie „einseitige Flächen ohne Orientierung“ (Béla Kerékjártó) unterdrückt. Es sind Geometrien, die nach Piaget beim Aufbau von Raumerfahrungen des kleinen Kindes wirksam sind, schließlich dem euklidischen Raum weichen und der Unterdrückung anheimfallen.


Duchamps "retard en verre" zeigt ein Medium, das an bestimmten Stellen Licht hindurchlässt und an anderen nicht, Zonen, die als Junggesellenmaschine beschrieben werden. In der Metapher Bergsons: ein Bilderstrom wird hindurch gelassen, ein anderer bleibt zurück. Bergson setzt voraus, dass wir nur Materie wahrnehmen können, die uns als Bilder begegnen, welche im Wahrnehmungsakt spontan auf einen Fokus wie auf einen Fluchtpunkt reduziert werden. Unzugänglich sind Kontinua, die nur begrenzt diskrete Erscheinungen ergeben, d.h. real werden können, dann allerdings als digitaler Strom von Einheiten. Das "retard en verre" stellt ein Wahrnehmungsmodell vor, das ebenso dem Film, dessen Stills Licht hemmen wie durchlassen, zugrunde liegt. Denkt man das Still vom Fließen her, wie das Wort besagt, dann ergibt sich eine Wahrnehmung, die nicht durch ein Abbild auf der Retina entsteht, sondern durch eine Reduktion des Bildflusses, die von einer Intention gelenkt wird und aus Möglichkeiten auswählt. Hamiltons "Ghosts of Ufa" geht von einer Analogie des Großen Glases aus, wobei die Figuren ohne Innenzeichnung den Bergsonschen Zonen entsprechen, die die Strömungen durchlassen wie das unbemalte Glas.

"Retard" ist jedoch vor allem ein Zeitbegriff und der Ruhezustand eine besondere Form von Bewegung, die in der Ruhe als leere Dauer empfunden wird, in der freilich etwas geschieht, das ein Ergebnis zeitigt. Ist der mentale Prozess eine Verwandlung, dann ist die Dauer dieses Prozesses den Inhalten gegenüber nicht gleichgültig wie eine objektive Zeit, sondern ihre Erscheinungsform. Bergson führt den Zucker als Beispiel an, auf dessen Auflösung wir im Wasser warten müssen, bis der Zustand der Trennung in eine neue Erscheinungsform übergegangen ist, sich qualitativ verändert hat. Die Dauer signalisiert ein in einem Offenen, wie es Deleuze nennt, sich veränderndes Ganzes. (G. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 1997, S. 24.) Das heißt, dass das künstlerische Produkt kein Abbild sein kann, auch keines des Inneren, weil die Veränderung eine neue ontologische Stufe erreicht, und die Dauer somit mehr als nur Anfang und Ende eines Prozesses bedeutet, sondern Veränderung und Dauer in einer Paradoxie verschlungen sind. Denn der Veränderung liegt eine innere Grenze zugrunde, die die beiden Ebenen unterscheidet und bindet zugleich. Der analoge Prozess von Kontinuum und Dauer ist unterbrochen durch die digitale Form der Begrenzung des Kontinuums.

Historisch betrachtet liegt es nahe, dass schließlich der mentale oder innere künstlerische Prozess nicht nur außen Bild wird, sondern eine mentale und innere Verweisungsstruktur hinzukommt, die bei Duchamp Textform annimmt und mit der langen Abbildungstradition bricht. Das geschlossene Ganze eines Bildes als Abbildung, wird durch Eintritt des beschreibenden Akteurs aufgebrochen. Der Akteur, der sich nun seinem Bild quasi über die Schulter zusieht, in dem er sich und sich "sehend" selbst beschreibt, würde die Unvollständigkeit dieses Vorgangs konstatieren müssen, weil er auf einen unendlichen Regress zuläuft, wenn es zu keiner Hemmung käme. Sie wird dadurch erreicht, dass die paradoxale Situation auf zwei Seiten verteilt wird, die in der selbstbildlichen Relation, der rekursiven Struktur des Selbstbildnisses zum Ausdruck kommen, die durch die Verweisung von Bild und Text sowohl gezeigt als aufgebrochen wird. Die Bruchstelle zwischen Bild und Text  markiert den Unterschied wie den Zusammenhang zwischen Anschauung und Denken.

Was in diesem Zusammenhang nicht ausgesprochen wird, jedoch wie ein Hintergrund-Echo mitwirkt, ist das Modell der Thermodynamik, das grundlegend für die Zusammenhänge von Energiegefälle und -gewinnung sowie der rekursiven Zyklen von Abbau und Aufbau ist. Für jede aus einem System von Zufallsprozessen hervorgegangene Gestalt ist eine nächste wahrscheinliche anzunehmen (adjacent possible, Stuart Kauffman, Investigations, 2000, S. 172), die aus der nach "innen" gerichteten Offenheit oder Unberechenbarkeit des Ganzen hervorgeht und mit der vorhergehenden Gestalt nur über dieses Ganze und dessen Offenheit vermittelt sein kann. Der Filmschnitt markiert die Offenheit, aus der das je nächste Bild mehr oder minder unbestimmt hervorgeht und Moment einer möglichen Geschichte wird, deren Verlauf mit hohen Freiheitsgraden ausgestattet ist und sukzessive gegen Ende ganz realisiert. Duchamp malt mit Nu descendant un escalier no. 2 eine Dauer,  in der sich die Schnitte ereignen. Die Konstruktion bindet die Einzelschnitte unauflösbar in die Dauer und den Raum eines Ganzen ein, das sich wiederum über die Schnitte definiert und selbst zerlegt. Die Zersplitterung wird von den internen Grenzen gebildet, die die Rekursion erzeugt und gleichzeitig den Raum abschließt. Die Relationsfigur schafft Raumgrenzen von höherer logischer Ordnung, die sich von der Umgebung wesentlicher abschließen als bei Innen-Außen-Verhältnissen, die in diesem Fall paradox und nicht eindeutig definiert sind.

Die Relationsfigur entspricht der Aufhebung der Links-Rechts-Orientierung im Raum, die sich ereignet, wenn man Flächenfiguren mit Recht-Links-Orientierung zur Kongruenz bringen will und der Übergang zur adversen Form eine Unbestimmtheitsschwelle überschreiten muss. Setzt man für diese Schwelle die nächst höhere, die 3. Dimension ein, gelingt die Transformation durch Rotation im Raum, der in der Fläche einen Grenzwert an Ausdehnung erreicht und aus der Raumperspektive als Sonderform von Raum gelten kann, beschreibbar mit Mandelbrots Fraktaler Geometrie. Der Umschlag der Orientierung findet an einer Grenze statt, die alle Orientierungen enthalten muss, um die Transformation zu ermöglichen. Für die Fläche wäre diese Grenze der Raum als Übergangszone, symbolisierbar durch sich selbst widersprechende, genauer: paradoxe "Aussagen" oder Figuren. Nach Craig Adcock ist Duchmap ein Interesse an der Geometrie einer vierten Dimension zu unterstellen, der der Mathematiker Esprit-Pascal Jouffret ein Traktat gewidmet und in einer Fußnote H.C. Wells "Plattner Story" erwähnt hat. Mr. Plattner gerät zufällig in die 4. Dimension, aus der er als Spiegelbild seiner selbst zurückkehrt.  

Die Annahme, dass eine zweidimensionale Figur über die dritte Dimension zur Deckung mit ihrer gespiegelten gebracht werden kann, und dies auch für Gegenstände der dritten Dimension gilt, die über eine vierte transformiert werden, lässt noch einen anderen Schluss zu: Zweidimensionale Figuren sind Abbildungen aus der dritten Dimension und "Flächenwesen", Projektionen aus der dritten Dimension. Den Raum in der Zweidimensionalität "einzufangen", gehört zum Wesen geometrischen Denkens.
Duchamp im Gespräch mit Pierre Cabanne 1966: "Ich fand heraus, dass der Schatten eines dreidimensionalen Objekts eine zweidimensionale Form konstituiert... und schloss daraus auf analogischem Weg, dass die vierte Dimension ein Objekt mit drei Dimensionen projizieren könne, d.h. dass alle dreidimensionalen Gegenstände, die wir so arglos betrachten, Projektionen von uns unbekannten vierdimensionalen Formen sind. Eine sophistische Argumentation zwar, aber doch im Bereich des Möglichen." Taucht ein Schattenbild auf einem Bild auf, ist dies als ein Hinweis auf den Raum zu verstehen, dessen Objekte als Abbildungen aus einer höheren Dimension darstellen, ein Verweisungszusammenhang, der im Tu 'm erkennbar ist. Was nicht vorstellbar ist, zeigt sich.

Richard Hamiltons retard en fer spielt mit dem Raum, wie man es auf ähnliche Weise in étant donnés vorfindet. Die Eingangstür führt nicht nach innen, sondern in den Außenbereich einer Landschaft, ein Bild, das an Wells Geschichte von der Grünen Tür erinnert, hinter der sich für den Jungen ebenfalls eine Landschaft öffnet. Da der Beobachter im Raumganzen mit einbezogen werden muss, schließt sich mit ihm und der Inszenierung ein Innenraum, den man zu einer inneren phantasmagorischen Matrix in Beziehung setzen kann. Duchamp verlagert die Sexualsymbolik des Auges und der Retina in die Raumkonstruktion mit dem Körper der Liegenden, den der phallische Blick durchdringt und in der Matrix innerer Phantasiebildung empfängt zugleich. Es ist ein symbolischer Akt in einem symbolisch rezeptiven Raum der Erwartung des Realen. So ist die Erwartung denn auch keine erotische Figur, sondern ein anscheinend lebloser Torso. Schon in der Antike schwankte das Auge zwischen Aktion und Rezeption, Sehstrahl und Eingangspforte der eidola, die ihm von den Dingen zuflogen. Duchamps Wertschätzung der Dauer, hat ihren Grund in Prozessen, in denen das Seinsgefälle genutzt wird, ihm entgegen zu arbeiten, um etwas Neues zu bilden; eine Bewegung, die nach Bergson diese Dauer und eine paradoxe Figur erzeugt, die ihre Aktivität durch Passivität zu erreichen sucht (und umgekehrt), eine Rrose Selavy. 

Hamiltons Bild führt mehrere Beobachter ein: den der Abbildung auf der Postkarte, einen Beobachter der Bühne, die zugleich der Zuschauerraum ist, in dem ein Beobachter sitzt, der das Publikum auf dem Vorhang gespiegelt wähnt, das allerdings angesichts des leeren Saals nicht mehr anwesend sein kann, mithin ein Beobachter des Publikums auf der Bühne auch eher ausgeschlossen ist, wenngleich die Perspektive eine solchen markiert. Die Orientierung eines in Bühne und Zuschauerraum geteilten Opernhauses ist aufgehoben, zumal die Bühne dem Teatro della Scala, der Zuschauerraum der Wiener Staatsoper entstammt, eine Überlagerung, die aus einem bestimmten, angeschauten Raum einen allgemeinen, gedachten schafft. Der Postkarten-Betrachter ist dennoch angehalten, seiner Realitätswahrnehmung gerecht zu werden, indem er den Vorgang im Geist dahin zurück verfolgt, wo das Publikum im Saal und einem Spiegel gegenüber zu sitzen schien, der nun vom Bild allein vertreten wird. Denn es hat wohl nie einen Spiegel gegeben, doch kommt niemand umhin, ihn zu imaginieren, um die räumliche Verrückung und den leeren Raum zu erklären.

Das Erlebnis, in einem Opernhaus von Publikum umgeben zu sitzen, das man beim Blick auf die Bühne nicht sieht, dürfte Voraussetzung für die Irritation des Bild-Betrachters sein, der nun das zu sehen bekommt, was er sonst nicht sieht, weil es gewöhnlich hinter ihm liegt, oder nur sehen würde, wenn er auf der Bühne steht. Eine bekannte Metapher wäre hinzuzuziehen, die besagt, dass das Bühnenpersonal nur das aufführt, was im Kopf des Zuschauer vorgeht, also die Angelegenheiten der Zuschauer verhandelt, die Hamilton gleich ganz auf die Bühne versetzt. Schließlich hat jeder Beobachter dank der Blickrichtung an zwei Räumen teil, deren geometrische Grenze vom retinalen Apparat gebildet wird, hinter dem jener Raum liegt, in dem das Bild entsteht. Der Sehstrahl geht nach außen wie nach innen, wo bereits Kant in den Antinomien einen geometrischen Raum erkundet hat, der oder dessen Inhalte nach außen um den Preis von Trugschlüssen
wie Wahnvorstellungen projiziert werden können. Der retinale Apparat bildet eine symbolische wie paradoxe Grenze der beiden gegensätzlich oder gar spiegelbildlich orientierten Räume, abgesehen von der Weiterverarbeitung der Sinnesreize im Gehirn, weshalb von ihm die optisch bedingte Verkehrung wieder aufgehoben werden muss. Dazu könnte Duchamps Bemerkung über einen Hund passen, dessen Besitzer er fragte, wo das zu diesem Positiv passende Negativ sei.

Eine Beobachtung kann nur von einem Beobachter ausgehen, weil eine Wahrnehmung singulär ist. Für ein Publikum kommen mehrere hundert, also n-dimensionale Wahrnehmungen in Betracht, die alle in Relation zu der eindimensionalen Wahrnehmung eines einzelnen Beobachters stehen. Entscheidend ist, dass die ontologische Händigkeit jedes Gegenüber zwischen zwei Beobachtern mit einem in sich widersprüchlichen Vorzeichen versieht, das die Grenze markiert, an der -- wie beim Spiegel -- das Bild des einen in das des anderen überführt werden kann, damit beide dieselbe Dimension, denselben ontologischen Raum einnehmen. Gott als das allsehende Auge ist nicht nur die Zusammenfassung aller Perspektiven eines Kollektivs, sondern die Aufhebung des Raumes durch Perspektivenvielheit. Die Reduktion auf einen einzelnen Beobachter in der Welt ist deshalb nicht möglich, weil die Beobachtung die andere Seite, das Beobachtetwerden, zum Beobachter dazugehört. Das Auge in Stellung zu bringen, beruht auf der Besetzung des Objektes und dessen Blickphänomen, das vom Angeblicktwerden abgeleitet zu sein scheint. Das Selbst ist im Objekt enthalten und tritt nur zusammen mit der Objektwahrnehmung auf (Jason W. Brown). Der Gottesmetapher liegt insofern der Umstand zugrunde, als der Blick doppelt orientiert ist, diese Orientierung aber nicht bewusst werden darf, weil der Beobachter sie sonst verliert. Denn die Händigkeit unterbindet die Nichtorientierbarkeit topologischer Relationen, die der Seitenorientierung ontogenetisch vorhergehen, ehe Euklid übernimmt.

In der theory of mind kennt die Beobachtung unterschiedliche Grade der Komplexität, weil das Beobachten aus der Beobachtung hervorgeht, beobachtet- oder angeblickt zu werden. Die Selbstbeobachtung verweist auf die basale Erfahrung des Angeblicktwerdens, sie wäre als Hintergrundrauschen zu verstehen, aus dem das Beobachten und der Blick hervorgehen. Beobachten und Beobachtetwerden sind durch eine Grenze unterschieden, die den Raum mit Gegenrichtungen ausstattet. Die Entscheidung für eine Seite -- des Beobachters -- löst die darin liegende Paradoxie auf, die darin liegt, dass der Beobachter immer auch gewärtig ist, unter Beobachtung zu stehen, denn das Bewusstsein ist Selbstbewusstsein. In einer Begegnung wird das Bewusstsein des Beobachtens mit dem des Beobachtetwerdens nicht zugleich auftreten können.

Wenn beim ontogenetischen Bildungsprozess eines Selbst die andere Seite mit in Anspruch genommen wird, weil objektive Zuschreibungen nötig sind, um die subjektiven zu verifizieren und zu festigen, geht in jede subjektive Beobachtung dieses objektive Material, d.h. der andere mit ein. Das Spiegelbild zeigt die geometrische Form dieses anderen als seitenverkehrten Körper, sodass das Spiegelbild eine Überlagerung von Selbst und Nicht-Selbst ist, das körperliche Selbstbild in der geometrischen Form der anderen Seite erscheint und formal auf die soziale Vermittlung des Selbst verweist. Der Umschlagspunkt ist orientierungslos, weil es eine Phase gibt, an dem die Beobachterperspektive, das anschauende Bewußtsein, aufgehoben ist und einen orientierungslos topologischen Zustand durchläuft. Damit ist die Brücke zu jener kollektiven Selbstbeobachtung geschlagen, die einen absoluten Beobachtungsraum ausmacht, den der Einzelne auf seine eigene Perspektive reduziert, nämlich der Zentralperspektive als subjektiven, auf einen Punkt bezogenen Beobachtungsraum.

Hamilton markiert den topologischen Umschlagspunkt dadurch, dass er die Verkehrung der Gegenden im Raume sichtbar macht. Wie man sein Spiegelbild als inkongruentes Gegenstück sieht, sich selbst also in einem Raum mit verkehrtem Vorzeichen und das Selbst vom gegensätzlichem Rahmen überlagert, so begegnet sich das Publikum auf der anderen Seite des Vorhangs und ist selbst so verschwunden, wie man sich selbst nicht sieht, wie man sich im Spiegelbild sieht. Diese Art von Rekursion ist ausgeschlossen oder unterdrückt, weil die Orientierung im Raum Vorrang hat, und das Selbst in die Objektwahrnehmung integriert ist, also formal nicht isoliert  erscheinen kann, denn der Wahrnehmungsakt wird dem Ich zugeschrieben. Hamiltons gezielt eingesetzte Irritation löst die Zuschreibung und die Beobachtungsrelationen auf. Es kann auch keinen Blick aller Anwesenden geben, die Einheit aller Blicke geht ins Leere, ebenso wie der Blick, der dem Beobachter aus dem Spiegel begegnet, ins Leere geht, damit er den Platz einnehmen, sich vorstellen kann, wo er sich befindet. So wird eine Ortlosigkeit des Ich produziert, das im Bild aufgeht, denn das Bild hat keinen realen Ort und setzt einen Vergewisserungsprozess des Selbst in Gang, indem das Bild (im Spiegel) von eigener Hand nachgebildet und fixiert wird. Nun besetzt der Akteur im Bild einen Ort für das Spiegelbild. 

32 Polaroids

Zwischen 1968 und 1971 entstanden 32 Polaroid-Porträts, die Freunde Hamiltons von ihm angefertigt hatten. Die Selbstbeobachtungsperspektive der Selbstbildnisse, die bis 1938 zurückreichen, wird in den Polaroids sozialisiert und mechanisiert. Die Kamera ist eine Maschine, die für ein gewisses Maß an Neutralität sorgt und die Kommunikation zwischen Fotograf und Modell auf die Erwartung der Ablichtung reduziert. Das Lichtbild ist Dokument einer Perspektive aus einem anderen Raum als dem heraus, in dem das Ich-Modell sich befindet. Doch ist dieser andere Raum nicht mit dem perspektivischen zu vergleichen, in dem das Ich sieht, allenfalls mit dem Fotografen, nicht aber mit dem Bild, das durch seine Maschine in den Umlauf der Sicht kommt und von vielen Räumen aus betrachtet wird, die in Relation zu Betrachtern stehen. Das Lichtbild befindet sich auf einer komplexeren logischen Ebene der Betrachtung, über die der Abgebildete mit sich selbst verbunden ist. Richard Hamilton hat 2010 genau beschrieben, wie sich aus einer Begegnung 1970 in einem Restaurant mit dem befreundeten Francis Bacon ein solches Bild ergab.  Hamilton hatte gerade eine Polaroidkamera erworben und Bacon darum gebeten, ein Porträt von ihm zu machen. Beleuchtungsumstände und Platzierung ergaben ein Bild, über das Hamilton schrieb: "Da der untere Teil des Fensters von einem schweren roten Brokatvorhang verdeckt war, hielt ich meinen Kopf hoch in der Hoffnung, daß etwas Licht von oben auf mein Gesicht fallen würde. Francis drückte auf den Auslöser und wir warteten die Entwicklung des Polaroids ab. Ich war fasziniert, ein auffallend baconhaftes Bild erscheinen zu sehen." Bacon war einverstanden, dass Hamilton eine Druckgrafik gestaltet, "die Bacon möglicherweise gemacht hätte, wenn, ja wenn er sich darauf doch eingelassen hätte". (Karin und Uwe Hollweg-Sammlung, 2011, S. 134) So fabriziert Hamilton ein Porträt, das Bacon zunächst von ihm als Foto angefertigt hat, welchem dann Hamilton wiederum den Anschein eines Porträts verleiht, das von Bacons Hand stammt. Hamilton zog Kataloge und Bücher hinzu, um  "seinen Stil nachzuahmen". Der lange Weg vom Fotografieren und dem Ausdruck dessen, der sich bewusst ist, fotografiert zu werden, bis zu den fertigen Studien endet mit Störfaktoren im Gesichtsausdruck in Form partieller Übermalungen. Der Raum der Ausdrucksnormalität wird damit überschritten und die Kommunikation Hamiltons mit sich selbst verrückt.

Der Kommunikationsbruch ist bei voller künstlerischer Kontrolle und Meisterschaft inszeniert. Hamilton konstruiert einen Widerspruch, der bei der Aufhebung der Diskontinuität zwischen sich und den anderen (Bacon) entsteht und sich in der Kommunikation mit sich selbst wiederholt. Man kann nicht zugleich Selbst und Nichtselbst auf der Ebene des Kollektivs und der Ebene des Selbst als Ich sein, denn es handelt sich um zwei logisch unterschiedlich komplexe Einheiten. Gregory Bateson: "Russels Theorie der logischen Typen besagt, dass zwischen einer Klasse und ihren Gliedern eine Diskontinuität besteht. Weder kann die Klasse ein Glied ihrer selbst sein, noch kann eines ihrer Glieder die Klasse sein, da der für die Klasse gebrauchte Begriff einem anderen Abstraktionsniveau entstammt -- ein anderer logischer Typus ist -- als Begriffe, die man für die Glieder braucht." (Auf dem Wege zu einer Schizophrenie Theorie; Toward a theory of schizophrenia; in: Systems Research and Behavioral Science, 1956, S. 251–264)

Gotthard Günther nennt dies ein "fundamentales Gesetz der Distribution der Subjektivität" und  "Streuung der Subjektivität über eine Mehrheit von Bewußtseinszentren", die in Moses 1.2,7 mythisch naiv als Geschlechterdifferenz dargestellt wird. Das Erscheinen eines ebenbürtigen Du erschließe "im Menschen die subjektive Tiefe einer sich selbst bewußten Innerlichkeit". (Beiträge III, S. 26 ff.)  Ich und Du befinden sich in einem Umtauschverhältnis der Reflexionszentren, weshalb das Du nicht nur aus einem anderen Erdenkloß geschaffen werden konnte, zumal dann die Kommunikation beider nur über Gott als vermittelndes Drittes möglich wäre. Weil vom ersten Menschen der zweite Mensch genommen wird, kann die "rückkoppelnde Selbstreferenz -- also das endlich vollendete Selbstbewußtsein -- direkt abgelesen werden". (S. 29) Mit zela "Seite" ist der den Menschen vollendende andere Teil gemeint. Die Bedeutung zielt auf die Seite eines Gebäudes oder Schräge eines Berges und gehört somit zur kantischen "Gegend im Raume", im mythischen Denken möglicherweise mit der linken als andere Seite und Gegenbild identifiziert, eine Relation, die der Ebenbildlichkeit -- zelem -- in einem zweiten Schöpfungsakt folgt. Das Begriffsumfeld deutet darauf hin, dass die Akte sich in einem räumlichen Orientierungsrahmen vollziehen: "Bild, Gestalt; Gleiten, Fallen; Wirbeln, Sinken, Hinken; Schatten, Nichtigkeit, Dunkelheit; Schwirren, Klingen" deuten auf Erfahrungen hin, die mit der instabilen Position des aufgerichteten Körpers und seiner Gegenrichtung im Raum einhergehen. Der Körper ist Vorbild für die bautechnischen Formen der lotrechten Gegenrichtung in Sakralbauten. Das Lot zeugt notwendigerweise den rechten Winkel, weil es auf eine Basis bezogen ist, die ihre Richtung unterbricht. Teilt das Lot ein gleichschenkliges Dreieck, ergeben sich zwei rechtwinklige Dreiecke in der Form inkongruenter Gegenstücke. Die Lotrichtung ist ein Raumphänomen, das auf die Fläche projiziert zum Maß und Mittel der Orientierung wird -- ein gnomon.  Die Ebene erhält dadurch die Qualität der kantischen Gegend, weil sie nun mit Richtungen ausgestattet ist, die jeweils als Abweichung einer Richtung gelten können, die den Raum in links und rechts von dem auf die Ebene projizierten Lot teilt.

Die Projektion der Vertikale -- der Höhe -- erzeugt vom Raum ein zweidimensionales Gebilde, das die Errichtung rückgängig macht und mit dem Tod assoziiert wurde, wie die Geschichten um Schatten, Bild und Spiegelbild zeigen. Die Abbildung der Höhe -- die Lotrichtung -- auf das Gegenteil wäre Geometrie, die ihre Möglichkeiten aus der Projektion der Höhe auf die Fläche bezieht und nur einen abgeleiteten Pseudoraum erschließt. Dasselbe gilt für die Linie oder Strecke und den Punkt, die ebenfalls abgeleitet sind, und nicht umgekehrt Elementarphänomene des dreidimensionalen Raumes darstellen. Die inkongruenten Eigenschaften der Figuren aller drei Dimensionen scheinen nicht Akzidentien des Raumes zu sein, sondern der Raum folgt der Chiralität, die auf der Brechung des Kontinuums und der daraus folgenden Paradoxie der Grenze beruht, die den Gegensatz trägt. Jede Paradoxie hat eine innere Grenze, deren Gegensätzlichkeit mithilfe von Raum oder Zeit, oder beidem, aufgelöst werden kann. Die Auflösung der Paradoxien durch Überschreitung der Dimensionsgrenzen deutet auf eine Überlagerung benachbarter Dimensionen bei beobachtbarer Chiralität hin, aus der Paradoxien hervorgehen. So befindet sich gerade die Spiegelung in einem solch paradoxen Überlagerungsverhältnis von Raum und Fläche.

Ein Kontinuitätsbruch ergibt zwei Seiten, die ebenfalls orientiert sind, weil die Bruchstelle gegenüberliegende Enden produziert, von denen aus das Kontinuum ins Unendliche sich fortsetzt, falls es keine neue Unterbrechung gibt. Den Unterschied zwischen gebrochenem und ungebrochenem Kontinuuum kann man als einen zwischen digital oder analog bezeichnen. Die Brechung erschafft den Agenten der Unterscheidung, den Beobachter, und den Raum als Umgebung. Für Kant ist die Händigkeit ein Hinweis auf den ontologischen Unterschied zwischen Anschauung und Begriff, Sinnlichkeit und Verstand (repraesentatio singularis und repraesentatio generalis). Da die Formen der Erkenntnis vermittelnd sind, hat die Anschauung überwiegend analogen, kontinuierlichen und der Verstand digitalen, d.h. begrenzenden und gliedernden Charakter. Den Hinweis auf die irreduziblen Quellen und ontologischen Unterschiede der Erkenntnis entnimmt Kant der Chiralität, weil der Unterschied zwischen links und rechts nur durch Zeigen erklärt werden kann, nur in Bezug auf sinnlich präsentierte Beispiele und nicht durch Sprache, d.h. durch die syntaktische Kommunikationsstruktur. Die sich aus zwei Welten zusammensetzende Erkenntnis folgt aus Kants Analyse des Wahns und der Notwendigkeit der Begrenzung jeder Seite durch die andere.

Die Unterscheidung von Anschauung und Begriff,
repraesentatio singularis und repraesentatio generalis, ist transponierbar in die Diskontinuität von Gliedern und Klassen, die zwei unterschiedlichen logischen Typen angehören. Die Aufhebung der Diskontinuität besteht darin, dass eine Seite die andere überlagert, ihren Geltungsbereich verlässt und wahnhaft wird, wie Kant es in den Antinomien beschrieben hat. So wäre die künstlerische Formbildung einer individuellen Erscheinung, also die begriffliche Überformung einer Anschauung, mit der Aufhebung der Diskontinuität vergleichbar und der Verrückung zuzuschreiben. Der Anschluss an die andere Seite vollzieht sich über Bruchstellen des Selbstbildes, das über eine allgemeine Repräsentation mit sich selbst kommuniziert, um Anschluss an die andere Seite zu finden. Dieser Gedanke scheint auf die Rede vom Rollenspiel in Selbstbildnissen anwendbar, eine schwache Form der Selbstnegation im Vergleich zu den Eingriffen, die Hamiltons Überformungen seines Antlitzes zeigen. Das formale, abstrakt erscheinende Moment der Verrückung wäre demnach kein Subjektivismus eines persönlichen Unbewussten, sondern die Demonstration der Unpersönlichkeit des Unbewussten im Durchgang durch die andere Seite, die in Hamiltons Porträts Francis Bacon beispielsweise repräsentierte. Da es sich um eine paradoxale Form handelt, ist das Singuläre vom Generellen nicht zu unterscheiden, die Verrückung der Form zeugt von ihrem Anteil an beiden sich wechselseitig ein- wie ausschließenden Seiten, so, wie es auch bei Delay in Iron der Fall ist, wo das Publikum da erscheint, wo es sich nicht befindet, und sich da befindet, wo es aber nicht erscheint. Man erinnert sich bei Kants Unterscheidung zwischen Begriff und Anschauung an Duchamps Doppelspiel mit Text und Bild, die vor allem im Großen Glas sich ergänzen müssen. Bild und Text, Anschauung und Denken berühren sich in einem für beide unerreichbaren Zwischenraum, der auch das Individuelle der Anschauung vom Allgemeinen des Denkens trennt.

Zwischenraum

Alfred North Whitehead beschreibt in Prozess und Realität, "Leben ist ein Charakteristikum des 'leeren Raums' und nicht des Raumes, der durch irgend eine korpuskulare Gesellschaft 'besetzt' wird. In einem Nexus lebender Ereignisse besteht ein gewisser sozialer Mangel. Das Leben liegt in der Zwischenräumen jeder lebenden Zelle und in den Zwischenräumen des Gehirns verborgen." (Frankfurt, 1987, S. 205 f.) Das Leben besitzt somit keine anschauliche Realität, keine postitve Existenz. "Das einzige Charakteristikum, das Whitehead ihm zuschreibt ist, dass es 'die Neuheit und nicht die Tradition' bezeichnet, und dieses Charakteristikum ist eigentlich keins, denn es ist nur eine Funktion: Neuheit zu erzeugen. Sie setzt die Existenz jener 'besetzten Räume' voraus und bekommt Positivität erst in der Wirkung, die sie auf diese ausübt. Sodann hat der Zwischenraum auch eine zeitliche Konnotation. Es handelt sich nicht mehr um den Raum, sondern um das Intervall zwischen zwei Augenblicken. (Didier Debaise: Eine Philosophie der Zwischenräume. Whitehead und die Frage nach dem Leben; in: Parasiten und Sirenen. Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion. Hrsg. Bernhard Dotzler, Henning Schmidgen, 2008, S. 126) Die beiden Augenblicke sind distinkte Phänomene, was bedeutet, dass immer ein Rest von Diskontinuität bleibt, wie eng das Intervall zwischen Ursache und Wirkung auch sein mag (Siehe Eugène Dupréel: La cause et l'intervalle. Ordre et Probabilité, Brüssel, 1933, S. 11) Realitäten - ein Stein, eine lebende Zelle, ein Donnerschlag - hängen über Zwischenräume zusammen und bilden nach Whitehead eine Gesellschaft. Die Intervalle "sind also keine reinen 'Nichtigkeiten', denn sie bestimmen nicht nur durch Kontrast die aufeinander folgenden Ereignisse, sondern in ihnen entsteht auch die dem bestimmten Ereignis eigene Orginalität und seine 'Konsolidierung'".  (Debaise, S. 128)  Die Unmenge an Dingen besteht aus einer "Sammlung an koexistierenden konsolidierten Dingen. Jeder Gegenstand hat eine Geschichte; eine kurze oder lange Zeit lang sind seine Teile von einer anderen Kraft untereinander verbunden worden als die, die sie gegenwärtig zusammen hält." (Dupréel, S. 38) Whitehead schreibt: "Ein gewöhnlicher körperlicher Gegenstand, der zeitliche Dauer hat, ist eine Gesellschaft." Er ist vergesellschaftet. Damit besteht eine Relation von Individuum und Gesellschaft, die Whitehaed in einem Rhythmus verbunden sieht: "Der kreative Prozeß ist rhythmisch: er schwingt von der Öffentlichkeit der Vielen zu der individuellen Privatheit und zurück von dem privaten Individuum zu der Öffentlichkeit des objektivierten Individuums. Die erste Schwingung wird von der Zweckursache beherrscht, welche das Ideal ist; die zweite von der Wirkursache, die wirklich ist." (Prozeß, S. 283)

Das Selbstbild ist die kleinste Einheit der Vergesellschaftung und zeitlichen Dauer, weil es in dem Rhythmus von Öffentlichkeit und Individuum lebt und mithin die Leerstelle zwischen beiden besetzt, dort, wo die Reflexion auf der Spiegelfläche stattfindet. Die Stabilität des Selbstbildes besteht im Ereignis, der Oszillation der beiden Seiten, von denen immer nur eine erscheinen kann, wenn die andere verborgen ist, wenngleich eine Seite allein nicht bestehen kann, sondern der verborgenen bedarf. Das erscheinende Bild ist im Sinne Whiteheads als Prozess aufzufassen. "Ein wirkliches Einzelwesen (actual entity) ist ein Prozeß und nicht im Sinne der Morphologie eines Stoffes beschreibbar", das statische Objekt mithin eine Illusion. Es ist ein Ereignis, das das sich in Raum und Zeit erstreckt und dauert. Duchamp hat mit dem Signieren das Objekt als Ereignis und subjektive Vorstellung markiert und aus der absoluten Objektivität von Raum und Zeit entfernt. So ist von dieser Einsicht auch ein Bildbegriff ableitbar, der seinen Prozesscharakter berücksichtigt und Richard Hamilton zum Polaroid geführt hat. An dem Kopiervorgang sind beide Seiten beteiligt dokumentieren ein Interesse, um der Begegnung als soziales Kopieren Dauer im Bild zu verleihen. Die darin enthaltene Idee der Überlagerung vollzieht mithin Duchamps Begriff des infra-mince, so zeugt das Polaroid vom Intervall des Ereignisses.

"Le possible impliquant le devenir – le passage de l’un à l’ autre a lieu dans l’ infra mince.“ (Duchamp. Notes, Paris 1999, S. 45)
"Séparation inframince entre le bruit de la détonation d’un fusil (très proche) et l’apparition de la marque de la balle sur la cible -- distance maximum 3 à 4 mètres -- Tir de foire." (Marcel Duchamp, Note 12, from Paul Matisse, Marcel Duchamp: Notes, 1980) Im Interview mit Denis de Rougement meinte er, das Phänomen sei "der naturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgangen". (Matisse 1999, zit. Antje von Graevenitz: Duchamp als Wissenschaftler, in: Die Wiederkehr des Künstlers, 2011, S. 245) Mit dieser Kategorie habe er sich zehn Jahre lang beschäftigt, und "par des infra-mince on peut penser de la deuxième à la troisième dimension". Ein Beispiel steht der Rückseite von VieW: "Quand le fumée de tabac sent aussi de la bouche qui l'enhale, les deux odeurs s'enpousent par INFRA-mince." Der Gedanke ist dem Beispiel von William James' "Principles of Psychology" vergleichbar, wo es heißt: "Into the awareness of the thunder itself the awareness of the previous silence creeps und continues; for what we hear when the thunder crashes is not thunder pur, but thunder-breaking-upon-silence-and-contrasting-with-it" (Ausgabe New York, 1950, Band I, S. 240) In der Überlagerung bilden Stille und Donner eine Einheit und einen Gegensatz zugleich, die doppelte Orientierung ist paradox und in Raum oder Zeit digital auflösbar.

Die "naturwissenschaftliche Aufmerksamkeit" konzentriert sich auf den Messvorgang des analogen Kontinuums, das ein anderer Begriff für den fließenden Übergang und die Bewegung ist. Der Messvorgang ist ein Abbildungsprozess, für den die Geometrie die Mittel bereit stellt. Duchamp persifliert den Vorgang mit den fallenden Faden, den er in den  Trois stoppages étalon konserviert. Der Weg zwischen den Fadenenden ist unbestimmt, wenn man ihn als Abbildung einer Bewegung versteht, von der angenommen wird, dass sie nicht in Teile zerlegt werden kann, sondern aus einer Zufallsfolge besteht, wenn man einen Punkt als mögliches Ereignis aus seiner Perspektive aus betrachtet, während erst die Bewegung als ganze ihm den Ort zuweist. Der Übergang zwischen beiden Seiten der Bruchstelle des Kontinuums ist als Überlagerung von Gegensätzen oder Verdeckung (infra-mince) darstellbar. Vorausgesetzt, dass eine Bewegung nicht geteilt werden kann, wäre die Bruchstelle ihres Kontinuums der Erzeugungsort zweier neuer Bewegungen in gespiegelter Form, ein "Ort", den Duchamp infra-mince nennen würde. 

Richard Hamilton praktiziert zum Beispiel in einer Reihe von Selbstporträts und Polaroids das Prinzip der Überlagerung, indem er das Konterfei teilweise mit Pinselstrichen verdeckt. Hier nimmt das infra soziale Gestalt an, wenn man die Übermalung als wechselseitige Verdeckung von Ich und Nicht-Ich versteht. Das Ich wird über das Nicht-Ich erreicht und die Zwischenzone ist die Einheit des Verschiedenen, der Vielheit. Die topologische Bewegung eines Objektes, bei der die Lateralität aufgehoben wird und Gegenstücke im Raum (Kant) kongruent werden, ist die geometrische Gestalt der Vereinigung -- individuell in der Sexualität, kollektiv im Denken.

Dieter Roth hat in Gegenteil des Kannibalen ein Bild gefunden, Duchamps infra-mince auf den Leib zu beziehen. "Gegenteil des Kannibalen: der, der die Haut seines eigenen Leibes als die Haut des Umweltleibes betrachtet." (Mundunculum, 1975, S. 319) Die Haut wird als die Zone erfahren, die zwischen Guss (Körper) und Verlorener Form (Umwelt) liegt und den Raum in ein Innen und ein Außen teilt. Allerdings bildet genau betrachtet die Haut zusammen mit dem Verdauungstrakt geometrisch einen Torus, der die Beziehung von innen und außen komplexer gestaltet, als es beim Guss der Fall ist. Dennoch scheinen derlei Empfindungen bereits die archaischen Fruchtbarkeitsriten der Azteken angetrieben haben, deren Priester sich Häute von Opfern übergestreift hatten, die man Goldenes Kleid nannte. Xipe Totec war Gott der Schmiede und Fruchtbarkeit zugleich, Ackerbau und Initiation der Jugend gingen ein symbolisches Verhältnis der Kultivierung der Natur ein. Die Azteken kannten die Technik der Verlorenen Form und schufen goldene Hohlformen in Analogie zur Haut als Metapher für den Körper. Das Abstreifen der Haut wird in anderen archaischen Kulturen durch Felle und Masken ersetzt, die die Initianden im Ritus einer Art Wiedergeburt anlegen, um den Kreislauf des Kultivierungsprozesses zu wiederholen, der auch einen Übergang von der Wildheit des Einzelnen zur Kultur der Vergesellschaftung bedeutet.

Das Selbstbildnis von hinten wurde von Richard Hamilton und Dieter Roth gemeinsam gefertigt, eine als Offsetdruck wiedergegebene Zeichnung, die an das Selbstbildnis Roths von 1966 anschließt, wo eine Furche den Kopf teilt. Nun tritt die Figur doppelt auf, die Rückseiten der  Schädel gehen aus zwei Blatt Papier hervor -- ein "Selbstbildnis, das von zwei verschiedenen Händen gezeichnet wurde". (Ralph Uhl: Misch und Trennkunst. Dieter Roth als Zeichner; in: Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung, 2009, S. 229) Roth fasst "die Zwischenräumlichkeit als eigene Gestalt auf, als eine eigene Subjektivitätsform. Demnach sind nicht die Einzelnen (Figuren/Körper/dramatis personae) Subjekte... Subjektivität spielt sich nicht in einem Subjekt ab, sondern im instabilen, sich in unendlicher Selbstdifferenzierung entfaltenden Zwischen-Mehreren. Diese Subjektivität ist offen zur Alterität hin." (Ulrike
Haß: Das Nein, Der Tod Und Die Zeit. Jelineks widerständiges Schreiben; in: GegenWorte - GegenSpiele, 2018, S. 191 f.)



 

(Im Reformulierungsstatus)


     

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